Vor einiger Zeit ging es im Filmrätselthread um den Film Ragtime von Milos Foreman. Inzwischen habe ich angefangen, mich mit der Romanvorlage dazu zu beschäftigen. Hier ist mal eine Leseprobe. Ich finde das wirklich ein witziges Stück Literatur:
"Freud traf an Bord des Lloyd-Dampfers George Washington in New York ein. Er war in Begleitung seiner Schüler Jung und Ferenczi, beide einige Jahre jünger als er. Sie wurden am Kai von zwei weiteren jüngeren Freudianern empfangen, den Doktoren Ernest Jones und A. A. Brill. Man speiste gemeinsam in Hammerstein´s Dachgartenrestaurant.
Dort standen Palmen in Kübeln. Ein Klavier-Geigen-Duo spielte Liszts „Ungarische Rhapsodie". Alle um Freud unterhielten sich, beobachteten ihn aber ständig, um seine Stimmung abschätzen zu können. Er aß Creme Caramel. Brill und Jones übernahmen für die Zeit des Besuchs die Rolle von Gastgebern. An den folgenden Tagen zeigten sie Freud den Central Park, das Metropolitan Museum und Chinatown, Katzenhafte Chinesen starrten aus düsteren Läden nach ihnen. Da gab es Glasbehälter gefüllt mit Litschinüssen. Die Gesellschaft besuchte einen der Stummfilme, die überall in der Stadt in ehemaligen Läden und billigen Lichtspieltheatern gezeigt wurden. Weißer Pulverdampf stieg von den Gewehrläufen auf, und Männer mit geschminkten Lippen und Wangen fielen rücklings zu Boden, die Arme an die Brust gepreßt. Wenigstens, dachte Freud, macht es keinen Lärm. Das Bedrückende an der Neuen Welt war für ihn der Lärm, das schreckliche Geklapper von Pferdehufen und Wagenrädern, das Scheppern und Kreisen von Straßenbahnen, die Hörner von Automobilen. Am Steuer eines offenen Marmon chauffierte Brill die Freudianer in Manhattan umher. An einer Stelle auf der Fifth Avenue hatte Freud das Gefühl, er werde beobachtet; er hob den Blick und entdeckte ein paar Kinder, die von oben aus einem Doppeldeckerbus auf ihn herabstierten. Brill fuhr die Gesellschaft zur Lower East Side mit ihren jiddischen Theatern und Schubkarren und Hochbahnen. Die gräßlichen Züge ratterten an den Fenstern von schäbigen Mietshäusern vorbei, in denen Menschen leben sollten. Die Fenster vibrierten, die Gebäude selbst vibrierten. Freud mußte seine Notdurft verrichten, und keiner schien ihm sagen zu können, wo eine Bedürfnisanstalt zu finden sei. Sie mußten alle in ein Milchrestaurant gehen und Sauerrahm mit Gemüseallerlei bestellen, damit Freud austreten konnte. Später, wieder im Wagen, hielten sie an einer Ecke an, um einem Straßenkünstler bei der Arbeit zuzusehen, einem alten Mann, der mit nichts als Papier und Schere kleine Porträtsilhouetten für ein paar Cent schnitt. Eine schöne, vornehm gekleidete Frau stand Modell für ihr Porträt. Der leicht erregbare Ferenczi verbarg seine Bewunderung für ihre gute Erscheinung, indem er seinen Kollegen im Wagen erklärte, wie glücklich er sei, die alte Kunst des Silhouettenschneidens auf den Straßen der Neuen Weit gedeihen zu sehen. Freud, die Zigarre fest zwischen den Zähnen, sagte nichts. Der Motor summte im Leerlauf, Nur Jung bemerkte gleich hinter der jungen Frau das kleine Mädchen mit der Schürze, das ihre Hand hielt. Das kleine Mädchen blickte Jung verstohlen an, und Jung mit seinem geschorenen Schädel, der in bestimmten entscheidenden Fragen bereits nicht mehr mit seinem geliebten Mentor übereinstimmte, betrachtete durch seine dicken, stahlgefaßten Brillengläser das reizende Kind und erlebte dabei etwas, das er als Schock des Wiedererkennens verstand, obwohl er in diesem Augenblick nicht hätte sagen können warum. Brill trat auf das Gaspedal, und die Gesellschaft setzte ihre Rundfahrt fort. Ihr letztes Ziel war Coney Island, weit außerhalb der Stadt. Sie kamen am späten Nachmittag an und unternahmen sogleich eine Tour durch die drei großen Vergnügungsparks: zunächst besuchten sie Steeplechase, dann Dreamland und schließlich, spät in der Nacht, Lunapark. Hier waren die Türme und Kuppeln von elektrischen Glühbirnen umrahmt. Die würdigen Besucher rutschten die Rutschbahnen hinab, und Freud und Jung fuhren zusammen mit einem Boot durch den Tunnel der Liebe. Der Tag kam erst zu einem Ende, als Freud müde wurde und einen der Ohnmachtsanfälle erlitt, die ihn seit einiger Zeit plagten, wenn er sich in Jungs Gegenwart befand. Wenige Tage später reiste die ganze Gesellschaft nach Worcester, wo Freud seine Vorträge hielt. Im Anschluß daran überredete man Freud, einen Ausflug zum großen Naturwunder der Niagarafälle zu machen. Sie erreichten die Fälle an einem bedeckten Tag. Tausende von frisch verheirateten Paaren standen dort und betrachteten die großen Kaskaden. Wasserdunst stieg von den Fällen auf, wie ein umgekehrter Regen. Ein Hochseil war von einem Ufer zum anderen gespannt, und irgendein Wahnsinniger in Ballettschuhen und Trikot ging auf dem Seil entlang, mit einem Parasol die Balance haltend. Freud schüttelte den Kopf. Später begab sich die Gesellschaft zur Höhle der Winde. Dort, an einem unterirdischen Steg, winkte ein Führer die anderen zurück und faßte Freud beim Ellbogen. Laßt den Alten vorangehen, sagte der Führer. Der große Arzt, dreiundfünfzig Jahre alt, beschloß in diesem Moment, daß er genug hatte von Amerika. Mit seinen Jüngern reiste er an Bord von Kaiser Wilhelm der Große nach Deutschland zurück. Er hatte sich weder an das Essen noch an den Mangel an Bedürfnisanstalten in Amerika recht gewöhnen können. Er glaubte, sich mit der Reise sowohl den Magen wie die Blase verdorben zu haben. Die Amerikaner kamen ihm allesamt dreist, unbesonnen und rüde vor. Die ordinäre Aneignung europäischer Kunst und Architektur, ohne Rücksicht auf Stilepoche oder Land, fand er entsetzlich. In unserer sorglosen Vermengung von großem Reichtum und großer Armut hatte er das Chaos einer zurückgebildeten europäischen Zivilisation erblickt. Er saß in seinem ruhigen, behaglichen Arbeitszimmer in Wien, froh, wieder zurück zu sein. Er sagte zu Ernest Jones: Amerika ist ein Irrtum, ein gigantischer Irrtum.
Zu jener Zeit waren natürlich nicht wenige Leute hierzulande bereit, ihm zuzustimmen. Millionen Menschen waren arbeitslos. Und die Glücklichen, die Arbeit hatten, wagten es nicht, Gewerkschaften zu gründen. Gerichte verboten es ihnen, Polizisten schlugen ihnen die Köpfe ein, ihre Führer wurden ins Gefängnis geworfen, und neue Männer übernahmen ihre Arbeitsstelle. Eine Gewerkschaft war eine Beleidigung Gottes. Schutz und Fürsorge für die arbeitenden Menschen sei nicht Sache der Arbeiteragitatoren, sagte ein wohlhabender Mann, sondern der Christen, denen Gott in seiner unendlichen Weisheit die Kontrolle über die Eigentumsinteressen in diesem Lande anvertraut habe."
Das Buch lohnt sich: Die Stelle ist natürlich an ganz vielen Punkten mit dem Rest des Textes verzahnt. (Steht aber doch ganz gut auch für sich alleine.) Es liest sich wegen dem Schreibverfahren, das assoziativ bezeichnet worden ist, recht leicht. Man muss sich fast zwingen, sich dabei Zeit zu lassen...An vielen Stellen denkst Du, Du hast es mit einer Fülle von Wochenschauberichten zu tun... (Das Schreibverfahren dürfte ne Menge mit Film und filmischen Mitteln zu tun haben...) Eine Menge herausragender Persönlichkeiten Amrikas der Zeit vor dem ersten Weltkrieg treten z. T. mit frappierender Wirkung auf..
Fiktionales und Dokumentarisches werden auf sehr orginelle Weise vermischt. Der zentrale Konflikt des Buches um den Ragtimepianisten, der zum Terroristen wird, taucht im Buch eher spät auf, steht in der Verfilmung viel mehr im Mittelpunkt. (Das sind nur "unwichtige" Überlegungen.) Wie gesagt: Daumen hoch.
Aus: E. L. Doctorow, Ragtime. Reclam Universal Bibliothek 1133
Hajü