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Crazy mary

Hajü

  • Gast
Antwort #15 am: 27. Februar 2004 um 23:10
hallo

Dass die Unterschiede zwischen den Texten immens sind, weiss ich. Aber ich meine, eine bessere Darstellung des "Sündenbocks" gibt es nicht. Motiv der Bauern, zur Jagd auf den Aussenseiter anzusetzen, ist, dass nach der Kirchenlehre, die die im Kopf haben, das Paradies für ein Neugeborenes, das nicht getauft werden konnte, verschlossen ist. Ich bin sicher, die katholische Kirche sagt heute was anderes. Aber in dem Text glaubt offensichtlich selbst der Pfarrer daran.

Der Dorftrottel wirkt für die Gemeinschaft und ihre Werte und Normen integrierend. Ich glaube Strauss hat in seinem "Bocksgesang" die Funktion des Sündenbocks ganz gut dargestellt, beschrieben?
Neben der Forderung nach „neuen“ nationalen Bildungskanon.
Sicherlich kann man Gesellschaften daran messen, wie sie mit ihren Aussenseitern umgehen. Oder wie geht man mit Minderheiten, Randgruppen um? Oder das sogenannte Betriebsklima ...
Klar, wir haben hier auf der einen Seite ein agrarisch klerikal strukturiertes dörfliches Wohnen, Leben, auf der anderen Seite etwas, das gern „open society“ oder Ansammlung von Nachbarschaften wäre, aber im Text als hoffnungslos eng, beengend erscheint.

Das ist die eine Komponente der drei wichtigen Faktoren des Crazy Mary Songs, die über die Jahre in Relation gesetzt werden: Die Kleinstadt und die psychisch Kranke. Und der Sprecher, Erzähler. Offensichtlich geht es in der amerikanischen Kleinstadt unseres Textes wesentlich „humaner“ zu, als im Dorf des Vergleichstextes. Gleichwohl wirkt diese Aussenseiterin integrierend. Sie ist zum Beispiel Demonstrationsobjekt für das Normale und Nicht Normale (Verhalten).  Das subtil Inhumane liegt wahrscheinlich in der "Political Correctness" der Mutter. Aber ich will da nicht zu weit gehen.

Der Dorftrottel des einen Textes hat seinen Ort im Dorf – normalerweise, - ähnlich wie die Crazy Mary in ihrer Stadt - es sei denn, ein Sündenbock wird gebraucht. („wo der Dorftrottel grad blöd sei' Suppen sauft“). Die Bezeichnung stammt oder ist abgeleitet von einem Brauch, den das Volk Israel während seiner langen Wüstenwanderung praktizierte.
Was man über diese Mary zumindest noch sagen kann, sie repräsentiert die schiere Armut, ist ganz schlecht versorgt, wohnt an der zugigsten und gefährlichsten Ecke in einem Haus, das nicht schützen kann. Sie ist unbehaust und unversorgt. Das sticht ja wohl ins Auge. Also: wer sich menthal so gehen lässt, bleibt arm, muss um das Autofahren betteln. Das ist die Moral für die Kinder der Tramperscene. Mag es auch Mitleid sein….

Aber der Schwerpunkt des Crazy Mary Textes liegt darin, dass der Erzähler an der einen Stelle erkennt, dass die Normabweichlerin, Aussenseiterin die einzig Normale und Freie der Kleinstadt ist. Darum geht es. Wenn die Traumsequenz Vision ist, geht es noch um mehr, als dieses Thema des „nur weg von hier“.  Das Thema des humanen Umgangs schwingt hier nur so mit. „Jeremy“ ist da glaube ich deutlicher.

H.
Gast


Hajü

  • Gast
Antwort #16 am: 28. Februar 2004 um 13:09
Hallo

Vielleicht könnte man den Akzent bei der Interpretation noch etwas anders setzen. - Aber die Text-Details, die Strukturen! - ----- Schon in der ersten Zeile taucht z. B. die Kurve auf, wo sie später umkommt. .......

Wenn es sich also weniger um einen Traum, als eine Vision handelt, erlebte der Erzähler über Zeit und Raum hinweg so eine Art "Himmelfahrt" der Verrückten. Das könnte auch etwas haben von ausgleichender Gerechtigkeit. Dieser Spruch "die letzten werden die ersten sein", fällt mir ein.

Die Aussage über die Kleinstadt bleibt gleich, ist vielleicht noch schlimmer: Wenn ein Gemeinwesen seine Bewohner, Teilnehmer so schlecht behütet, sie sogar so zurichtet - ihnen die Rolle der unrettbaren Verrückten, die Rolle des Dorftrottels zuweist - dann taugt es nichts. Im Sinne der ausgleichenden Gerechtigkeit hätte Crazy Mary die Himmelfahrt verdient. Sie hat es geschafft, die ganze Misere hinter sich zu lassen.

Aber auch die anderen Bewohner, die Lungerer, der Erzähler sind schlecht behütet. Aber es gibt Rituale zu verdrängen - drink it down.

Übrigens instruktive Darstellungen des Lebens in der amerikanischen KIeinstadt hat auch Steven King gemacht in seinen ausufernden Horrorromanen. Die Bewohner und ihre Obsessionen - z. B. in "Needful Things". Meiner Meinung nach...

Lege ich bei der Interpretation der Traumsequenz den Schwerpunkt auf Traum, nicht Vision, kommt etwa so was raus: Der Erzähler ist soweit, er ist erwachsen, die Stadt seiner Kindheit ist ihm zu eng geworden. Schafft er den Absprung?

Die Deutung als Vision wäre also "brisanter".

H.

Gast


Hajü

  • Gast
Antwort #17 am: 28. Februar 2004 um 13:36
Hallo

Hat nicht dieser nahtlose Übergang von einem Alter - Tramperscene - in das nächste etwas von filmischer Schnitt-Technik? Überblendung heisst das filmische Mittel glaube ich.)

Wie gesagt an dem Text könnte man eine ganze Menge beobachten

H.

Gast


el_duderino

  • Gast
Antwort #18 am: 28. Februar 2004 um 17:31
Hallo

Da habe ich jetzt lange nach gesucht. Ich hoffe es ist nicht zu lang für die Seite. Das Thema ist im Grunde dasselbe. Das Dorf ist allerdings kleiner. Sage über die Unterschiede allerdings nicht: Hie Deutschland, Österreich, dort Amerika. Denke an die Männer mit den weissen Kapuzen.

Der Dorftrottel
Ludwig Hirsch

Die Hebamm is schon da, heut nächt wird's soweit sein,
die Bäuerin is ruhig, es geht ihr gut,
der Bauer steht im Weg, sie lächeln ihn aus der Stuben,
er brummt und zeigt nicht, daß er sich freut auf den Buben,
und weich fällt der Schnee,
Herrgott, dank dir schön.

Der Pfarrer schaut noch vorbei, leise tritt er ein,
er bringt a Bonbonniere für die junge Frau,
man wird s' ihr dann nachher geben, "Vergeltsgott für den Schnaps",
der Pfarrer geht und flüstert zur Stuben hin an Segen.
Am Himmel wird's langsam rot,
Herrgott, das Kind is tot.

Wenn die Hexen tanzen im Wald,
wenn der Freitag am Dreizehnten fallt,
wenn ein Kind stirbt und vorher der Nachtvogel schreit,
dann is soweit, dann is soweit.

Der Pfarrer geht durchs Dorf, er kennt sich nicht recht aus,
a eigenartige Stimmung liegt in der Luft.
Die Männer sind ernst und schweigsam, ängstlich sind die Frauen,
sie sperren die Kinder in's Haus, die dürfen kein' Schneemann bauen.
Plötzlich wird's dem Pfarrer klar,
Herrgott, irgendwer is in Gefahr.

Später dann bei der Hebamm, da hocken ein paar beinand,
geheimnisvoll murmelnd, den Rosenkranz fest in der Hand.
Der Pfarrer steht plötzlich am Bahnhof, ein Koffer steht neben ihm,
er fährt auf drei Tag in die Stadt, zu sein' Bruder nach Wien.
Am Himmel dämmert's schon,
Herrgott, der Pfarrer fährt einfach davon.

Wenn die Hexen tanzen im Wald ...
Am nächsten Tag in der Früh, da treffen sie sich beim Wirt,
mit Mistgabeln, Sensen und Sicheln und leuchtenden Augen.
Sie singen Halleluja und wandern zu dem Haus,
wo der Dorftrottel grad blöd sei' Suppen sauft.
Die Hebamm schwingt's Kruzifix,
Herrgott, der Dorftrottel weiß noch nix.

Sie haben das Haus erreicht, die ersten Steine fliegen,
der Dorftrottel schreit nach dem Pfarrer, aber der is ja nicht da.
Sie zahn ihn auf die Wiesen, er weint wie ein kleines Kind,
sie haun ihn solang, bis ihm's Hirn aus der Nasen rinnt.
Nachher falln s' auf die Knie und tun beten,
dem Bauern sein Kind kann endlich den Himmel betreten.
Und weich fällt der Schnee,
Herrgott, dank dir schön.

Gehört auch  zu den Depri-Songs. Eine Ballade. Der Pearl-Jam-Text ist ungleich raffinierter. Aber den Song von Hirsch musst Du Dir mal anhören.

H.

Gast

ludwig hirsch, da werden erringerungen wach! das lied "spuck den schnuller aus" hat mich geprägt....sollte man im aufklärungsunterricht vorspielen  ;D


Hajü

  • Gast
Antwort #19 am: 28. Februar 2004 um 23:01
@el_duderino - genau ;D

habe den Song leider nur auf einer "verlorenen" Kassette. Kann den nicht mal jemand irgendwo einstellen?

Natürlich ist es eine Satire. Man darf auch nicht die archaischen, "heidnischen" Elemente vergessen, die Hexen, Freitag d. 13. usw., auf denen der christlilche Glaube hier aufsitzt. Da ist der Pfarrer auch machtlos.  Wie gesagt: Die Kirche lehrt heute was anderes. Aber die sozialen Mechanismen, die der Text zeigt, die kann man noch beobachten.

Und - je schlimmer die wirtschaftliche Lage ist ...

H.

Gast


Hajü

  • Gast
Antwort #20 am: 29. Februar 2004 um 13:17
Hallo

Eine Bemerkung zur Struktur - ohne gross ins Detail zu gehen.: Strassen sind in dem Text besonders häufig vorhanden. Einerseits als Vorausdeutung auf das Ende der Crazy Mary, andererseits wird der Ort des Wohnens damit charakterisiert, gestaltet. Ich habe vor kurzem in einer Wiederholung einen Bericht aus der Steinzeit des deutschen Fernseh gesehen, eine Folge von "Bilder aus Amerika". Schon da verschwanden in Orten die Fusswege, um Platz für die Autos zu schaffen. Ich glaube, da ging es um Hollywood.

Diese Überblendung, diese Zeitsprünge, dieser Zeitsprung - plötzlich sind die Kinder, der Erzähler älter, hat meiner Meinung nach in Kombination mit dem Refrain und seinen Wiederholungen auch eine Funktion in Bezug auf die Gestaltung der Kleinstadt. Das soll wohl bedeuten, dass die Kleinstadt der Ort der ewigen Wiederkehr des Gleichen Stumpfsinnes ist. Aber unter der Hand läuft die Zeit - plötzlich ist man älter, plötzlich ist man am Ende, ohne dass was gewesen ist.

Diese zwei mal wiederholten Sentenzen vor dem letzten Refrain unterstreichen - wie schon gesagt - diesen Effekt des Immer Gleichen Stumpfsinns.

Noch etwas: Solche Texte gehören nicht in Gold gerahmt in ein Museum: Die müssen immer wieder verlebendigt werden. Die Diskussion - oder andere Formen von Rezeption - dürfen einfach nicht aufhören.

Denn dies ist das bessere Amerika, zwar pessimistisch, aber nach dem, was ich bis jetzt gesehen habe, zutiefst human.

Das ist natürlich noch drüber, wenn ein Song auf die Art, wie das bei "Thin Air" beschrieben, angedeutet wurde, quasi gelebt wird, wenn einem das Lebenshilfe geben kann.

Grüsse

H.
Gast



Hajü

  • Gast
Antwort #21 am: 29. Februar 2004 um 13:22
Hallo

Das habe ich doch vergessen. Ehrlich gesagt, dies macht mir immer noch Schwierigkeiten:

mercy backed outside her windowsill

Mitleid, Fensterbank? - klar backed soll sich auf das Donnergeräusch reimen. Aber ---- kann man da nicht mal so ein "wandelndes Lexikon" auf zwei Beinen fragen?

Gast

H.


Offline Lucky Luke

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Antwort #22 am: 29. Februar 2004 um 13:46
Ich würde Mercy aber nicht als Mitleid, sondern als Gnade übersetzen. Müsste vom Sinn eher hinkommen.
It´s not a movie, no private screening.
This method acting, well, i call that living.
It´s like a fountain, a door has opened.
We have a problem with no solution but to love and to be loved.


Offline Mindcrime

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Antwort #23 am: 29. Februar 2004 um 23:33
@Hajü:

So, da bin ich wieder...

In der Zwischenzeit hast du ja hier fleißig weitergepostet. Das muß ich mir mal in Ruhe reinziehen, überfordert mich um diese Uhrzeit aber ob der Masse etwas. Kommt später...  ;)

Erstmal will ich meine Gedanken zu deiner "Crazy Mary"-Interpretation loswerden...

Ich glaube, wir liegen mit unseren Interpretationen garnicht soooo weit auseinander, auch wenn du mit Mary`s Tod ein gänzlich anderes Ende siehst. Aber nicht nur von daher war dein Beitrag auch für mich sehr instruktiv!  ;)

Sehr schön finde ich zum Beispiel deine Metapher, daß der Erzähler in seinem Traum "Mary wie eine Sonne über dem Horizont aufgehen sieht".

Bleiben wir doch zunächst beim Thema Tod. Sicher ist auch das eine mögliche Interpretation, die du ja auch ausreichend belegst (mit der ich mich aber rotzdem nicht so recht anfreunden will). Du schreibst, daß Mary "nur als Tote aus der Kleinstadt herauskommt" und sie "echt erst im Tod frei und undeterminiert ist", weil es selbst in der Verrücktheit keine Freiheit gibt, nur im Tode. Ebenso, daß nach Mary`s Tod der Erzähler die Kleinstadt wohl verlassen wird.

Erste Frage: Warum sollte gerade Mary`s Tod der Auslöser dafür sein, daß der Erzähler die Stadt verläßt? Nach deiner Interpretation, weil "die Traumsequenz zeigt, daß er soweit ist". Für mich bleibt ein Traum aber eben ein Traum (und keine Einsicht) und ist deshalb in meinen Augen kein Beleg. Es wird im Text nicht klar, ob er es schafft, die Stadt zu verlassen, sicher scheint nur, daß er es sich wünscht. Du schreibst, daß "der Refrain am Schluß absolut erdrückend" wirkt, wie "eine Moral von der Geschichte klingt". Unterstreicht das nicht die Hypothese, daß der Erzähler nicht aus der Kleinstadt herauskommt? Weiter schreibst du, "wenn er es erzählen kann, hat er es schon getan" (also sich befreit). Das glaube ich nicht, denn nur wenn man über etwas redet, heißt das nicht, daß man es gleichzeitig auch verändert. Oder habe ich dich da missverstanden?

Trotzdem ist dieser Aspekt der Freiheit durch Tod interessant. Sehr guter Gedanke von dir, daß Mary in ihrer Verrücktheit die einzig Freie in dieser Stadt ist. Absolut d`accord, weil sie sich als einzige keinen kleinbürgerlichen Konventionen beugen muss. Aber ist dieses Bild der absoluten Freiheit nur im Tod nicht etwas überspitzt? Kann es denn im Leben keine absolute Freiheit geben? Oder anders gefragt, kann es im Leben überhaupt absolute Freiheit geben, oder bleibt letztlich sowieso immer nur der Tod als letztes Mittel übrig, wenn man frei von allem sein will? Müsste man mal drüber nachdenken, führt aber hier wohl zu weit...

Und die Frage ist tatsächlich, wie du in diesem Zusammenhang "mercy backed outside her windowsill" unterbringst!? Ich denke wie Lucky auch eher an Gnade. Ist der Tod demnach eine Gnade für Mary? Dann wäre das Ganze ja garnicht so pessimistisch wie du glaubst, sondern eher tröstlich!?

Du hast das Auto erwähnt, das gleich dreimal im Text verwendet wird. Nebenbei gesagt, glaube ich nicht, daß "Mary eine Leidenschaft für das Autofahren hat". IMO will sie schlicht und einfach nur in die Stadt mitgenommen werden (vielleicht ist der Fussweg zu weit oder sie hat kein Geld für einen Bus?). Aber, und da hast du Recht (auch das ein neuer Gedanke für mich), sie bestimmt, wann und wann nicht das geschieht (durch "but her hands flew from her side").

Kommen wir auf das Auto zurück, seine 3 Erwähnungen. Ich sehe es so: Zum ersten dient das Auto der Kontaktaufnahme (Trampen), zum zweiten der Auflehnung (Autorennen) und zum dritten der Erlösung/Begnadigung (Mary verschwindet damit). Bei dir deutet letzteres eher auf Zerstörung hin (rast ins Haus). Das kann man in alle möglichen Richtungen deuten. Vielleicht eine Art "roter Faden" für die zeitliche Abfolge, die im Song beschrieben wird? Mir fällt im Augenblick kein schlüssiger Zusammenhang ein, vielleicht dir!? Frage, die sich daran für mich anschließt, nachdem du schreibst "Der Text hier stellt die Kleinstadtrennen weder als Rebellentum, noch als wehmütige Angelegenheit dar". Als was sonst?

Aber "American Graffiti" ist ein klasse Film, da stimme ich dir ohne Widerrede zu!  ;D

Kompliment auch für deine Deutung von "drink it down"! Die Herumlungernden spülen ihren Kummer herunter. Aber es geht ja noch weiter: "pass it around". Heißt das, auch der Kummer wird herum- bzw. weitergereicht? So wie in einer Art Teufelskreis, aus dem es kaum ein Entrinnen gibt? Genauso wenig wie aus dem tristen Leben in dieser Kleinstadt?

Zum Schluss noch eine kleine Nuss....

Ausgehend von dir ("Der Weg führt direkt in die Säuferszene...Nicht auszuschliessen, daß so ein Auto in das Haus der Mary raste") bestimme ich einfach mal Alkohol und Drogen zum zentralen Thema des Songs. Auch der Löffelverbieger hat an "Last Kiss" denken müssen. Ist "Crazy Mary" vielleicht am Ende ein Anti-Alk-und-andere-Drogen-Song?

Mary bleibt dabei die Verrückte (wobei sie sich vielleicht um den Verstand gesoffen haben könnte). Alle Leute in der Stadt ertränken ihre Sorgen und Perspektivlosigkeit vor dem kleinen Laden im Alkohol. Vielleicht auch die Mutter unseres Erzählers? Vielleicht nimmt sie Mary nur deswegen manchmal nicht mit, weil sie betrunken Auto fährt und davon zittrige Hände hat?

Ist es Zufall, daß "that old blue car we used to race" blau ist? Vielleicht ein Synonym für`s "blau sein" (betrunken also)?

"One night thunder cracked, mercy backed outside her windowsill": Auch hier läßt der Text Spielraum für eine Deutung in Richtung von Drogen. Der Erzähler ist auf dem Trip (wird die Droge "Crack" nicht auch "gebacken"?). Er hat eine Vision (den Traum), sieht Mary in ihrem Haus und wie sie über allem (also auch über ihm) steht. Eifersucht und Neid überkommen ihn (was deinem durchaus schlüssigen Liberalitätsgedanken widersprechen würde) und im Drogenrausch beschließt er sie zu töten odergleichsam zu "begnadigen" (vielleicht auch nur im übertragenen Sinne, indem er das wenige zerstört, das sie besitzt), indem er mit dem Auto in ihr Haus rast. Erst am anderen Tag (und wieder nüchtern) erkennt er, was er angerichtet hat ("that what you fear the most, could meet you halfway") und ist erschüttert darüber. Doch da ist es zu spät! Oder ein Unfall? Eine von zahllosen anderen Trunkenheitsfahrten, doch dieses Mal mit tragischem Ausgang? Etwas, wovor er schon immer Angst hatte und was ihn nun eingeholt hat?

Wahrscheinlich etwas weit hergeholt und auch unausgegoren, ging mir aber beim Lesen deines Beitrages auch mal durch den Kopf.

Wie dem auch sei, ich glaube, damit, daß du dich in die Interpretation von "Crazy Mary" "eingemischt" hast, sind einige neue Aspekte aufgetaucht. Und das ist gut! Fertig wird man mit einer solchen Interpretation aber wohl nie... Außer wir fragen Eddie, was denn nun wirklich dahintersteckt!  :)  
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Hajü

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Antwort #24 am: 02. März 2004 um 00:25
Hallo @Mindcrime  ;D


Ich hatte auf so was gehofft. Nun hast Du also zum grossen Sprung angesetzt. Muss mir das, was ich jetzt gerade erst mal nur überfliegen konnte, erst mal noch in Ruhe "zu Gemüte" führen.  Antwort folgt. Ich glaube aber nicht, dass ich Dich dabei vom Gegenteil überzeugen möchte. Allerdings - an die Drogenthese glaube ich schon jetzt nicht.

Nebenbei "einmischen" - ich hoffe, ich darf das, das Ganze macht mir zur Zeit einfach ziemlich Spass und Freude.

Schön, dass die Diskussion weiter geht.
 ;)
Übrigens habe ich mir gestern mal "I am mine" angeguckt. Da gibt es auch noch eine ganze Menge zu zu sagen.... Ich halte das ganz und garnicht für eine Art ausgekoppelten Schlager mit flachen, einfachen Bildern, der Hit werden wird. ....

So kommt man auf den ganz falschen "Dampfer". Ganz falsch, meiner Meinung nach...
Grüsse

H.

Gast


Hajü

  • Gast
Antwort #25 am: 02. März 2004 um 01:03
Hallo

Eins noch zu mercy. Es als Gnade zu übersetzen bedeutet doch, dass der Tod für diese arme Frau Erlösung ist. So wird das im Text auch gemeint sein. Aber in einem viel weiteren Sinne. Der Erzähler erlebt  so eine Art Himmelfahrt im Sinne ausgleichender Gerechtigkeit. Die bekommt man allerdings erst, wenn es etwas auszugleichen gibt. (Die anderen Deutungsmöglichkeiten, die ich sehe, sind die Irre ist die einzig Freie, und .. der Erzähler erlebt ihren Tod - eben als Himmelfahrt, als Schweben über der Misere) Wir befinden uns allerdings, wenn wir das als Gnade übersetzten, direkt neben dem Begriff Gnadentod. Ich glaube in mindcrimes Antwort klang sogar sowas an. Klang fast, als ob der Erzähler, Sprecher selbst ... Klingt eher nach Steven King. Ist mir zu unheimlich.

Gnadentod liegt mir zu nah an lebensunwert. Ich habe gesagt. dass der Text das Thema des humanen Umgangs nur nebenbei behandelt. Das fiel mir am meisten auf. Zum Anderen später. Muss mir Text und Argumente und Beweise erst mal genau angucken... sacken lassen.

Ich bin der Meinung und das ist die Grundannahme meiner vorhergehenden Postings, /Interpretation, dass hier die Kleinstadt von ihrem Aussenseiter her definiert und dargestellt wird. Das habe ich auch mit dem Hirschtext zu zeigen versucht.

Meiner Meinung nach würde dieser Traum, diese Vision, wenn man sie mit Drogen in Verbindung brächte, sehr leiden. Sicherlich gibt es an diesem Ort der Trostlosigkeit Alkoholismus.

Ich stelle mir das so vor: Die Gemeinwesen vergeben Rollen und Positionen. Dazu gehört auch die Rolle des Aussenseiters, ( Randgruppe).
Das heisst, wenn die eine Mary weg ist, kommt die nächste, überspitzt gesagt. Die Gemeinschaften, Gruppen usw. vergeben einfach solche Stellen. Hier ist doch auch ein Kriterium zur Bewertung dieser Kleinstadt - und auch des Textes selbst.
Ich habe versucht zu zeigen, dass der Umgang mit dem Aussenseiter in der Kleinstadt des Textes auch etwas fast (versteckt) Faschistisches hat. Aber auch da will ich nicht zu weit gehen.

Nur noch mal zur Erklärung

Grüsse

H.

Gast


Hajü

  • Gast
Antwort #26 am: 02. März 2004 um 01:12
@mindcrime  ;)

Habe gerade noch mal die Nase reingesteckt. Ich antworte noch. Du gibst mir da einige "Nüsse zu knacken"....  Gerade fiel mir das mit der Freiheit noch mal auf. Das stellen wir in jedem Fall klar. Es geht hier nicht um die Freiheit des Selbstmordes. Hier ging es um den Text.... aber ich antworte noch.

H.

Gast


Offline Mindcrime

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Antwort #27 am: 02. März 2004 um 10:39
Na gut, ich warte....  ;D

Kurz was zu Ludwig Hirsch:

Mir fällt es schwer, vom "Dorftrottel" eine Brücke zu "Crazy Mary" zu schlagen. Wofür soll Mary der Sündenbock sein? Für das gesellschaftliche Klima oder das individuelle Versagen (unseres Erzählers...) in dieser Kleinstadt? Zumindest würde das meinen Neid- und Eifersuchtsgedanken stützen. "Sündenbock" halte ich in dem Zusammenhang aber für das falsche Wort. Ein "Dorftrottel" ist Mary auch nicht. Vielleicht verrückt, aber nicht dumm!

Was meinst du mit "mental so gehen läßt"? Glaubst du, Mary`s Lebenssituation ist selbstverschuldet? Woran machst du das fest?

Und was ist schon normal, was unnormal? Gerade Stephen King wandelt in dieser Frage IMO auf extrem schmalem Grad...

Wir könnten das hier ruckzuck auf eine Diskussion über gesellschaftliche Zustände ausdehnen. Du hast einige Dinge angesprochen: Political Correctness, die Rolle der Kirche, den Umgang mit Randgruppen, Rassismus (die weißen Kapuzen, nehme ich an), "Betriebsklima" (würde ich auf Familie und soziales Umfeld erweitern) oder die "politischen Gefahren" in wirtschaftlich schlechten Zeiten. Aber das würde alles zu weit führen...

Daß wir jedoch überhaupt nochmal so tief in "Crazy Mary" eingestiegen sind, ist dein Verdienst! Alle Achtung! Deshalb war das mit dem "einmischen" auch nicht negativ gemeint. Im Gegenteil!
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Hajü

  • Gast
Antwort #28 am: 02. März 2004 um 14:58
Hallo @mindcrime

Danke für die warmen Worte am Schluss :D

Ich denke mal, wir haben uns durchaus verstanden. (Ein bisschen beginne ich zu verstehen, was "mindcrime" bedeutet - nicht negativ gemeint - in keinem Fall.  ;D

Vielleicht ist der Begriff Sündenbock irritierend. Nimm Aussenseiter, Minderheiten, Randgruppen. Die Betrachtungsweise ist "soziologisch". Frage ich nach dem persönlichen Schicksal, muss ich anders dran gehen. Dann wäre die Frage eher psychologisch - oder philosophisch. (Schuldfrage).

Schon der Name deutet doch auf dieses soziologische Phänomen hin: Crazy Mary. Die Rolle der (harmlosen)Irren ist ihr zugewiesen. Crazy ist quasi ihr Vornahme, Bestandteil ihres Namens geworden.
Vom Text her: Erst, als Mary über ihrem Milieu schwebt, ist sie frei. Der Text nimmt also an, dass sie - und mit ihr die anderen in der Kleinstadt - vorher unfrei und determiniert waren. Zur Freiheit später noch mal. Das Bild ist an sich sehr kompliziert. Quasi naturalistisches Milieu ist repräsentiert in ganz wenigen Ingredienzien wie Zeitungstapeten und nackten Glühbirnen. Der Ort, wo naturalistische Dramen mit allen ihren Implikationen (Armut, Genetik, Alkoholismus, Darwin, Comte, Taine .. )spielen. Da haben wir auch eine lange Tradition. Ist quasi in den allgemeinen Diskurs eingegangen. ("Was läuft? Hauptmann - ach so") Deshalb fiel mir auch die Bezeichnung Deterniniertheit ein. Diese schwebende, aufgehende Mary sprengt diesen Rahmen, hat etwas expressionistisches, surrealistisches.  Das ist ganz schöne "Steigerung und Verdichtung". Im selben Bild werden die determinierenden Faktoren und ihre Übewindung gezeigt. Höchste Komprimierung...

Noch etwas: Ich gebe zu, ich habe das alles etwas sehr ineinandergeschachtelt: Ergab sich so beim Schreiben.

Nimm mal diese zwei, drei? Deutungsmöglichkeiten, die ich annehme. Dann könnte/müsste ich noch mal erklären, was Traum und Vision in meinem oberen Srpachgebrauch sind.

Traum: Der Blick geht nach innen. Es werden Ereignisse und Erfahrungen verarbeitet. Im Traum erkennt der Erzähler, was ihm vorher wahrscheinlich schon längst aufgefallen ist, er aber vielleicht nicht für wahr halten wollte. - Nichts Aussergewöhnliches, passiert allen Menschen.

Dann erschliesst sich dem Erzähler in dem Traum eine Erkenntnis, die er als Kind noch nicht haben konnte. Die Kleinstadt ist zu klein, die Irre ist ja die einzige Normale. Nur weg von hier. Auch das könnte er niedertrinken.
Übrigens - Die sentenzartige Wiederholung einer Moral von der Geschichte vor dem letzten Refrain deute ich ja schon als bescheuert, als Verdrängen. Will sagen: Es ist schwer, Erkenntnisse in die Tat umzusetzen, da sind wir einig.


Vision: Dies Fliegen über Berg und Tal, dies Ineinanderschachteln von Totale und Detailansicht (nackte Gllühbirnen) - oder ist es eine Art rasender Kamerafahrt - deutet darauf hin.
Vision bedeutet in dem Falle paranormales Wahrnehmen - vielleicht kam deshalb der Drogengedanke auf - Wahrnehmen über Zeit und Raumgrenzen hinweg, was innerhalb der Naturgesetze garnicht möglich wäre. Was er auf diesem Wege wahrnimmt, habe ich gesagt. Bedeutet zumindest auch, dass der Text einen solchen paranormalen Raum annimmt. Begegnet uns ja nicht zum ersten mal bei diesen Songs.

Es gibt genügend Erzählungen über so paranormale Ereignisse und Erkenntnisse. Ich will das hier nicht vertiefen. Eine solche Erkenntnis hätte wahrscheinlich einen höhreren Stellenwert.

Noch etwas: bedeutet blue im Englischen eigentlich auch Blau im Sinne von besoffen? Mein Wörterbuch zeigt mir gerade, sad. Könnte eher als Colorit der Stumpfsinnigkeit der Kleinstadt gemeint sein.

Noch was: Es geht um die Texte und nicht gesellschaftliche oder wer weiss was - Grundsatzdiskussionen.... Da sind wir auch einig.

Noch etwas stach mir ins Auge: Letzte Instanz Eddie. Ich glaube, der ist klug, das zeigen die Texte, sagt er nie, was das bedeuten soll. Warum sollte er die schreiben, präsentieren, wenn er es anders könnte? Es geht hier nicht (nur) um Didaktik und Vermitteln. Ich glaube über das Verhältnis Dichter und Werk (was für abgenutzte Begriffe) gibt es Regale voll Literatur. (Kritiker und Literaturwissenschaftler und andere wollen sich auch ihren Platz sichern.) Ich glaube die Frage, was meint Eddie dazu? führt auch zu der Gefahr, dass die Dinge sich zu schnell erschliessen scheinen. Ich stell mir das so vor: Er ist quasi der Repräsentant seiner Texte. Ich kann verstehen, dass einer, der sich so bemüht, auf der Bühne mit einem Pappkopf, der die schiere Dummheit darstellt, das absolut Kontraproduktive, beginnt Fussball zu spielen. (Da muss man sich nur ein paar von den Texten hier angucken.)(die Musik hören!). Aber muss der das? Wagner z. B. war ein ganz windiger Bursche (zumindest zeitweilig). Aber er hat Teile in seinen Opern, die einen absolut vom Hocker reissen können? (vielleicht ein schlechtes Beispiel) Verstehst Du - zwischen "Werk" und Autor muss es Unterschiede geben. Auch für eine vernünftige Interpretation. Die braucht etwas Distanz.

Noch zur Freiheit: Ich habe es mir da einfach gemacht. Glaube es steht auch so im Text: Die Freiheit liegt hier einfach ausserhalb. Man muss "nur" wegkommen. Ich spreche wiederum nur vom Text. Andere Texte äussern sich deutlicher zu dem Problem.

Ich glaube, das war meine Antwort wohl mehr zu meiner Interpretation - ich hoffe, ich habe mich nicht zu sehr wiederholt.

Grüsse

H.

Gast


Hajü

  • Gast
Antwort #29 am: 02. März 2004 um 15:32
Hallo

Vielleicht das noch: Wenn es Vision ist: paranormales Wahrnehmen eines Raumes, in dem die Naturgesetze nicht gelten, überwunden sind, nicht determinieren, dann lässt sich dieser Raum nicht direkt wahrnehmen. Auch dafür steht das Bild, Symbol der schwebenden Mary.

Dieser Raum kann hier scheinbar nur in Symbolen, Bildern widergespiegelt werden.
Das erinnert wieder an "Even Flow". (Deshalb kam ich auch auf "Himmelsfahrt". Mal gucken, ob so etwas noch in anderen Texten auftaucht.)
Grüsse

H.

Gast