Jetzt muss ich dich mal ein bißchen zerpflücken! Natürlich nur stilistisch...
Vielleicht ist der Begriff Sündenbock irritierend. Nimm Aussenseiter, Minderheiten, Randgruppen. Die Betrachtungsweise ist "soziologisch". Frage ich nach dem persönlichen Schicksal, muss ich anders dran gehen. Dann wäre die Frage eher psychologisch - oder philosophisch. (Schuldfrage).
Okay, lassen wir das beiseite. Eine Schuldfrage läßt sich im Text weder erkennen, noch belegen. Mit Außenseiter bin ich einverstanden. "Die Gemeinwesen vergeben Rollen und Positionen. Dazu gehört auch die des Außenseiters", hast du vorher mal geschrieben. Sehr gut!
Wobei es auch mal interessant wäre zu gucken, ob unser Erzähler in der Gemeinschaft (der Stadt) nicht auch ein Außenseiter ist. Vielleicht kommt daher seine Fixierung auf Mary, weil sie im Grunde das gleiche Schicksal (nur auf unterschiedlichen Ebenen) haben...
Schon der Name deutet doch auf dieses soziologische Phänomen hin: Crazy Mary. Die Rolle der (harmlosen)Irren ist ihr zugewiesen. Crazy ist quasi ihr Vornahme, Bestandteil ihres Namens geworden.
Vom Text her: Erst, als Mary über ihrem Milieu schwebt, ist sie frei. Der Text nimmt also an, dass sie - und mit ihr die anderen in der Kleinstadt - vorher unfrei und determiniert waren. Zur Freiheit später noch mal. Das Bild ist an sich sehr kompliziert. Quasi naturalistisches Milieu ist repräsentiert in ganz wenigen Ingredienzien wie Zeitungstapeten und nackten Glühbirnen. Der Ort, wo naturalistische Dramen mit allen ihren Implikationen (Armut, Genetik, Alkoholismus, Darwin, Comte, Taine .. )spielen. Da haben wir auch eine lange Tradition. Ist quasi in den allgemeinen Diskurs eingegangen. ("Was läuft? Hauptmann - ach so") Deshalb fiel mir auch die Bezeichnung Deterniniertheit ein. Diese schwebende, aufgehende Mary sprengt diesen Rahmen, hat etwas expressionistisches, surrealistisches. Das ist ganz schöne "Steigerung und Verdichtung". Im selben Bild werden die determinierenden Faktoren und ihre Übewindung gezeigt. Höchste Komprimierung...
Ist zwar etwas kompliziert ausgedrückt, aber ich stimme dir in Punkto Freiheit zu. Ich habe übrigens nie behauptet, daß Selbstmord Freiheit bedeutet! Selbstmord ist kein Mittel der Freiheit, sondern nur eine Flucht in ihrer vielleicht extremsten Form.
Traum: Der Blick geht nach innen. Es werden Ereignisse und Erfahrungen verarbeitet. Im Traum erkennt der Erzähler, was ihm vorher wahrscheinlich schon längst aufgefallen ist, er aber vielleicht nicht für wahr halten wollte. - Nichts Aussergewöhnliches, passiert allen Menschen.
Dann erschliesst sich dem Erzähler in dem Traum eine Erkenntnis, die er als Kind noch nicht haben konnte. Die Kleinstadt ist zu klein, die Irre ist ja die einzige Normale. Nur weg von hier. Auch das könnte er niedertrinken.
Übrigens - Die sentenzartige Wiederholung einer Moral von der Geschichte vor dem letzten Refrain deute ich ja schon als bescheuert, als Verdrängen. Will sagen: Es ist schwer, Erkenntnisse in die Tat umzusetzen, da sind wir einig.
Vision: Dies Fliegen über Berg und Tal, dies Ineinanderschachteln von Totale und Detailansicht (nackte Gllühbirnen) - oder ist es eine Art rasender Kamerafahrt - deutet darauf hin.
Vision bedeutet in dem Falle paranormales Wahrnehmen - vielleicht kam deshalb der Drogengedanke auf - Wahrnehmen über Zeit und Raumgrenzen hinweg, was innerhalb der Naturgesetze garnicht möglich wäre. Was er auf diesem Wege wahrnimmt, habe ich gesagt. Bedeutet zumindest auch, dass der Text einen solchen paranormalen Raum annimmt. Begegnet uns ja nicht zum ersten mal bei diesen Songs.
Diese Drogenidee war auch nicht wirklich ernst gemeint. Ich wollte nur mal schauen, ob du darauf einsteigst...
Aber was deine Definition von Traum und Vision angeht...auch d`accord! "Überblendung" und "Zeitsprünge" hast du das an anderer Stelle mal genannt. Auch sehr gut!
Noch etwas stach mir ins Auge: Letzte Instanz Eddie. Ich glaube, der ist klug, das zeigen die Texte, sagt er nie, was das bedeuten soll. Warum sollte er die schreiben, präsentieren, wenn er es anders könnte? Es geht hier nicht (nur) um Didaktik und Vermitteln. Ich glaube über das Verhältnis Dichter und Werk (was für abgenutzte Begriffe) gibt es Regale voll Literatur. (Kritiker und Literaturwissenschaftler und andere wollen sich auch ihren Platz sichern.) Ich glaube die Frage, was meint Eddie dazu? führt auch zu der Gefahr, dass die Dinge sich zu schnell erschliessen scheinen. Ich stell mir das so vor: Er ist quasi der Repräsentant seiner Texte. Ich kann verstehen, dass einer, der sich so bemüht, auf der Bühne mit einem Pappkopf, der die schiere Dummheit darstellt, das absolut Kontraproduktive, beginnt Fussball zu spielen. (Da muss man sich nur ein paar von den Texten hier angucken.)(die Musik hören!). Aber muss der das? Wagner z. B. war ein ganz windiger Bursche (zumindest zeitweilig). Aber er hat Teile in seinen Opern, die einen absolut vom Hocker reissen können? (vielleicht ein schlechtes Beispiel) Verstehst Du - zwischen "Werk" und Autor muss es Unterschiede geben. Auch für eine vernünftige Interpretation. Die braucht etwas Distanz.
Ist mir klar! Aber auch wenn ich Pearl Jam-Fan bin, heißt das nicht, daß ich nicht eine kritische Distanz wahren kann. Besonders bei Eddie`s Texten ist das nicht sonderlich schwierig, weil sie sich eben
nicht schnell erschließen und deshalb einer Distanz bedürfen, um dann (im Optimalfall) mit viel Zeit und Muse, das "Grosse Ganze" zu erkennen.
Den Satz hier mußt du mir aber bitte nochmal erklären, verstehe ich überhaupt nicht: "Ich kann verstehen, dass einer, der sich so bemüht, auf der Bühne mit einem Pappkopf, der die schiere Dummheit darstellt, das absolut Kontraproduktive, beginnt Fussball zu spielen. (Da muss man sich nur ein paar von den Texten hier angucken.)(die Musik hören!)."
Zum Schluß noch ein Gedanke zu "mercy":
Der Tod ist eine Gnade für Mary aus der Sicht des
Erzählers (das ist ein Unterschied!): Er empfindet es als Gnade, aus diesem Kaff rauszukommen und sei es tot. So nachdem Motto: Lieber tot als hier zu leben!? Also nicht im Sinne von Gnadentod (zu negativ besetzt), sondern in Richtung einer Erlösung (im positiven Sinne)!
Edit: Kann uns eigentlich hier noch irgendjemand folgen...?